Alltagsintegrierte Sprachbildung
Online- und Präsenzseminare Udo Elfert

Autonome Kindersprache


Früher ist man davon ausgegangen, dass ein Kind als unbeschriebenes Blatt auf die Welt kommt und von den Erwachsenen bzw. von der Umwelt im Hinblick auf den Spracherwerb „beschrieben“ wird. Bei dieser Vorstellung wird das Kind geboren und kann noch keinerlei Sprache. Das Ziel sei der Erwerb der dann auch folgerichtig so benannten „Zielsprache“ – man könnte auch sagen: „Erwachsenensprache“. Wenn man die Sprachentwicklung so versteht, dann erscheint Spracherwerb als gerade Linie zwischen der Geburt (noch keine Sprache vorhanden) und dem Zeitpunkt, an dem der Spracherwerb im Wesentlichen abgeschlossen ist (etwa mit dem 6. Geburtstag). Jede Abweichung von der geraden Linie zur Zielsprache wirkt dann wie ein Fehler.

Inzwischen weiß man, dass es eine ganze Reihe von angeborenen Fähigkeiten gibt, welche den Spracherwerb mitsteuern.

Unter diesem Aspekt ist nicht jede Abweichung von der Erwachsenensprache als Fehler zu verstehen, sondern als Auffälligkeit im wahrsten Wortsinn: Es fällt halt auf. (Dies gilt neben der hier beschriebenen autonomen Kindersprache auch für andere Phänomene wie die phonologischen Prozesse, syntaktisch unvollständige Sätze und so weiter.)

Im engeren Sinn wird daher von der „autonomen Kindersprache“ gesprochen. Diese erwächst zunächst aus der 2. Lallphase (6.-10. Lebensmonat), bei der sich Lallkomplexe verfestigen. Diese sog. „Primitivsymbole“ haben eine gleichbleibende Bedeutung und haben gewissermaßen die Funktion von frühen Wörtern. (Symbolverständnis für Wörter und Begriffs- und Kategorienbildung ist in diesem Alter selbstverständlich noch nicht vorhanden.) Sie lassen sich aber nicht aus der Erwachsenensprache/Zielsprache ableiten.

Im weiteren Sinn zählt zur autonomen Kindersprache auch die Verwendung von sog. „Baby- und Kleinkindwörtern“. Dazu gehören zum Beispiel „Pipi“, „Hei(j)a“ und „Wauwau“ oder Tierstimmen und Lautmalereinen wie „IA“, „Miau“ und „Kikeriki“. Auch wie Fantasiesprachen klingende Elemente, wie sie zum Beispiel im Rahmen des expressiven Spracherwerbsstils vorkommen und in kleinerem Umfang auch beim nominalen Spracherwerbsstil zu finden sind, werden dazu gezählt. „Wauwau“ ist somit kein falsches Wort für „Hund“, nur weil es nicht der Erwachsenensprache entspricht. Es ist Teil der autonomen Kindersprache.

Im Rahmen der alltagsintegrierten Sprachbildung kann diese Erkenntnis wichtige Konsequenzen haben. So entfällt in einem bestimmten Alter die Notwendigkeit, dem Kind, das zum Beispiel von „Wauwau“ spricht, die sprachliche Zielstruktur obligatorisch durch korrektives Feedback (verbesserte Wiederholung) präsentieren zu müssen: „Genau, das ist ein Hund und der macht Wauwau.“ – „Wauwau“ gehört zur autonomen Kindersprache in diesem Alter und ist kein falsches Wort für „Hund“. Auch pädagogische Fachkräfte dürfen bei Kindern jünger als 18-24 Monate (das hängt vom konkreten und individuellen Sprachstand des Kindes ab...) Baby- und Kleinkindwörter wie "Wauwau" oder "Miau" verwenden.

 

(c) Udo Elfert 2021 


 

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