Alltagsintegrierte Sprachbildung
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Spracherwerbstheorien und alltagsintegrierte Sprachbildung


Im Folgenden werden Sie einige Spracherwerbstheorien kennenlernen. Je nachdem welche Spracherwerbstheorie zugrunde gelegt wird, ergeben sich beim Umgang mit Kindern im Hinblick auf Sprache und auf Sprachbildung unterschiedliche Schwerpunkte.


Die folgenden Spracherwerbstheorien haben wenige Gemeinsamkeiten, vor allem weisen sie aber große Unterschiede auf. Die beschriebenen Modelle des Spracherwerbs sind nicht als Abbildung der Realität zu verstehen, sondern als mehr oder weniger nützliche Hilfsmittel, um Beobachtungen und Zusammenhänge des Spracherwerbs zu erklären.

[Am Ende des Artikels finden Sie eine Zusammenfassung.]

 

Alle Spracherwerbstheorien gehen davon aus, dass

  1. Sprache im engeren Sinn nur beim Menschen zu finden ist,
  2. es bei Kindern wichtige Voraussetzungen für den Spracherwerb gibt,
  3. Kinder für den Spracherwerb eine geeignete Umwelt benötigen und
  4. die Voraussetzungen (2.) und die Umwelt (3.) gut aufeinander abgestimmt sein und zusammenwirken müssen,

damit ein Kind Sprache erwerben kann.


Es werden vier Spracherwerbstheorien unterschieden:

  1. Behaviorismus
  2. Nativismus
  3. Kognitivismus
  4. Interaktionismus

 

Spracherwerbstheorie 1: Der Behaviorismus

Der behavioristische Ansatz des Spracherwerbs wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von John B. Watson begründet und in den 50er Jahren durch Burrhus F. Skinner weiter erarbeitet. Der behavioristische Ansatz in seiner Reinform gilt als überholt und nicht zutreffend.

Für den Behaviorismus kommt das Kind als unbeschriebenes Blatt (Tabula rasa) zur Welt und wird von der Umwelt „beschrieben“. Die zentrale These von Skinner lautet, dass Kinder Sprache erwerben, weil die Umwelt auf „richtige“ Lautäußerungen mit Lob („verstärkend“) reagiert und auf „falsche“ Lautäußerungen neutral oder negativ. Diese Form des Lernens wird als operante Konditionierung bezeichnet. Je häufiger eine Lautäußerung oder ein Wort verstärkt wurde, desto mehr festigt sie sich im Sprachrepertoire des Kindes. Eine weitere Grundlage für den Spracherwerb ist laut Skinner die Tatsache, dass Kinder ein Imitationsverhalten zeigen und Lautkombinationen und Wörter nachahmen, die dann ebenfalls von der Umwelt verstärkt (Lob) werden.

             Behaviorismus: Spracherwerb erfolgt durch Imitation und Verstärkung

Für den behavioristischen Ansatz des Spracherwerbs ist das Kind eine Black-Box und innere Prozesse (Kognition, Emotionen) werden ignoriert. Der Behaviorismus kann auch den Erwerb des komplexen Regelsystems, das jeder Sprache zugrunde liegt, sowie die sprachanalytischen Fähigkeiten, die Kinder erwerben, nicht erklären. Ein grundsätzlicher Kritikpunkt am Behaviorismus ist, dass menschliches Leben – und dazu gehört vor allem auch die Sprache – viel komplexer und vielschichtiger ist, als es die behavioristischen Theorien beschreiben und erklären.



Spracherwerbstheorie 2: Nativismus

Der Behaviorismus wurde vor allem von dem amerikanischen Linguisten Noam Chomsky kritisiert. Nach Chomsky ist Sprache viel zu umfassend, als dass sie von einem Kind innerhalb von relativ kurzer Zeit einzig durch Imitation und Verstärkung erworben werden kann. Man müsse daher davon ausgehen, dass ein Kind keine Tabula rasa (unbeschriebenes Blatt) sei, sondern angeborene Begabungen und Fähigkeiten hat – vorprogrammierte mentale Schablonen – die es ihm ermöglichen, Sprache zu erwerben. Nach Chomsky haben alle (menschlichen) Sprachen gemeinsame grammatische Prinzipien (Universalgrammatik), die allen Menschen angeboren seien. Insofern entwickelt sich die Grammatik (und die Sprache) nach Chomsky relativ unabhängig von der kognitiven Entwicklung.

Nativismus: Spracherwerb erfolgt entlang angeborener sprachspezifischer Fähigkeiten

Auch der Nativismus ist erheblicher Kritik ausgesetzt. Gegen die Annahme einer angeborenen Universalgrammatik spricht zum Beispiel, dass es Sprachen mit völlig unterschiedlichen Grammatiken gibt, die sich gar nicht durch eine einzige zugrunde liegende Grammatik beschreiben lassen. Auch kann diese Spracherwerbstheorie nicht erklären, warum für den Spracherwerb Fähigkeiten genutzt werden, die gar nicht sprachspezifisch sind – zum Beispiel die Bildung von Kategorien oder die Fähigkeit, Beziehung zwischen Dingen zu erfassen.

Chomsky selbst hat seine ursprüngliche Theorie mehrfach angepasst und der Nativismus in seiner Urform gilt als überholt.

 


Spracherwerbstheorie 3: Kognitivismus

Der wichtigste Vertreter des Kognitivismus ist Jean Piaget. Piaget und der Kognitivismus verstehen Spracherwerb als eine besondere Form des kognitiven Lernens – also das Wahrnehmen, Erkennen und Denken betreffend – und als einen Teil der Gesamtentwicklung des Kindes. Sprache lässt sich demnach gar nicht isoliert betrachten und ist somit als Ausdruck der gesamten kognitiven Entwicklung zu verstehen.

Zu den kognitiven Fähigkeiten, die dem Spracherwerb zugrunde liegen, gehören zum Beispiel:

  • Objektpermanenz – die Erkenntnis, dass Dinge auch dann existieren, wenn sie gerade nicht wahrnehmbar sind. Die Objektpermanenz entwickelt sich laut Piaget etwa im 7. und 8. Lebensmonat.
  • Symbolverständnis – die Erkenntnis, dass Zeichen für Objekte stehen können. So kann ein Bauklotz auf dem Spielteppich ein Symbol für ein Auto sein, genauso wie das Wort „Auto“ symbolisch für ein reales Auto steht. Das Symbolverständnis ist bei den meisten Kindern zwischen dem 18. und dem 24. Lebensmonat entwickelt.
  • Theory of Mind (ToM) – die Fähigkeit, Annahmen über die Bewusstseinsvorgänge anderer Personen zu machen, also bei anderen Gefühle, Absichten, Meinungen etc. zu vermuten, die nicht den eigenen entsprechen. Kinder, die eine Theory of Mind entwickelt haben, können die Perspektive anderer einnehmen (Perspektivwechsel). Voll entwickelt ist eine Theory of Mind bei den meisten Kindern erst mit etwa 4-5 Jahren.

Der Spracherwerb erfolge laut Kognitivismus auf der Basis kognitiver Fähigkeiten, die sich beim Kind durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt herausbilden. Auf Basis der konkreten Erfahrungen (mit den Sinnen) erlange das Kind zunehmend die Fähigkeit losgelöst von konkreten Gegenständen oder Ereignissen zu denken – und zu sprechen.

 

Kognitivismus: Spracherwerb erfolgt auf der Basis von kognitiven Fähigkeiten, die sich durch die konkrete Erfahrung mit der Welt bilden

 

Beispiel:

Ein Kind entwickelt eine Vorstellung davon, was ein Ball ist, indem es ihn sieht (Er ist rot.), anfasst (glatt) und anstößt (rollt weg).

Es sagt „Ball“, später „Wo ist der Ball?“ und viel später „Die Erde ist eine Kugel.“

Die konkrete ganzheitliche Erfahrung wird in oben genanntem Beispiel durch das Wort „Ball“ repräsentiert. Durch Objektpermanenz und Symbolfunktion wird das Kind dazu in der Lage sein, über einen Ball zu sprechen, auch wenn aktuell keiner wahrnehmbar ist und sich zum Beispiel den Erdball vorzustellen, ohne ihn je mit allen Sinnen begreifen zu können. Die ersten Worte eines Kindes repräsentieren also in besonderem Maße seine ersten konkreten Erfahrungen – sie sind unmittelbar mit diesen verknüpft. Daher ist (sind) auch die Muttersprache(n), in der (denen) das Kind diese Worte erwirbt, so wichtig für seine weitere kognitive Entwicklung[1]. Grundlegende Voraussetzung für kognitive und sprachliche Entwicklung ist die konkrete Erfahrung der Umwelt mit allen Sinnen. Durch sie werden Vorstellungen von Gegenständen erworben, immer weiter verfeinert, verinnerlicht und schließlich durch ein Wort symbolisiert. Später erfolgt dann weitere Abstraktion, indem Hypothesen aufgestellt und diese allein aufgrund der inneren Logik diskutiert werden. Dem Spracherwerb liegen also verschiedene kognitive Fähigkeiten zugrunde, aber auch umgekehrt gilt: Sprache ein wichtiger Faktor für die weitere kognitive Entwicklung, zum Beispiel als Voraussetzung des abstrakten Denkens.[2]

 

  

Sprachtheorie 4: Interaktionismus

Der Interaktionismus wurde von dem Psychologen Jerome Bruner entwickelt. Er hat als Voraussetzungen für den Spracherwerb das angeborene Spracherwerbssystem (Nativismus) und die kognitiven Fähigkeiten (Kognitivismus) um ein sog. Spracherwerbs-Unterstützungssystem (LASS: Language Acquisition Support System) erweitert.

Bruner geht davon aus, dass sich bestimmte logische Strukturen, die wichtig für den Spracherwerb sind (wie die Subjekt-Objekt-Unterscheidung) durch die Eltern-Kind-Interaktion im Spiel während der präverbalen Phase (vorsprachliche Phase) herausbilden. Damit stellt er im Gegensatz zu Nativismus und Kognitivismus die Rolle der sozialen Umwelt für den Spracherwerb in den Vordergrund.

Der Interaktionismus geht davon aus, dass Kinder eine angeborene Lernfähigkeit und Lernbereitschaft haben und automatisch mit der sozialen Umwelt interagieren. Die erwachsenen Bezugspersonen haben ebenfalls angeborene Kompetenzen, die Interaktion mit dem Kind so zu gestalten, dass Spracherwerb stattfinden kann und unterstützt wird.

 

Interaktionismus: Spracherwerb erfolgt durch die Interaktion mit der sozialen Umwelt, vor allem zwischen Eltern und Kind.

 

Zu diesen angeborenen Kompetenzen gehört zum Beispiel die Ammensprache  ("Motherese") die meist im ersten Lebensjahr des Kindes zum Einsatz kommt: deutliche Prosodie, erhöhte Stimmlage, deutliche Betonung, kurze Sätze, viele Wiederholungen. Die den Spracherwerb unterstützenden Interaktionen werden vom Erwachsenen dem jeweiligen Stand der kognitiven und sprachlichen Entwicklung des Kindes angepasst. So wird von den erwachsenen Bezugspersonen die Ammensprache über das erste Lebensjahr hinaus kaum noch verwendet, und andere Formen der kindgerechten Sprache treten in den Vordergrund – zum Beispiel die Stützende Sprache (Scaffolding) und Lehrende Sprache.

 

Das folgende Beispiel für den Spracherwerb in Interaktion ist entnommen und leicht verändert aus: vgl. Bruner, J. (2008): Wie das Kind sprechen lernt. Bern: Huber

Beispiel:

Die Mutter versteckt ihr Gesicht hinter einem Tuch und sagt: „Tschüss!“

Sie guckt wieder hinter dem Tuch hervor und ruft: „Hallo!“

Richard schaut zu und lacht und babbelt.

Mit 1;2 Jahren versteckt Richard selbst sein Gesicht, lässt es hervorkommen, die Mutter ruft „Hallo!“

Mit 1;9 Jahren versteckt er Puzzleteile in einem Topf. Er holt jedes einzelne hervor und ruft jedes Mal: „Hallo Haus!“. Er lässt es verschwinden und ruft: „Tschüss Haus!“ Während dieses Spiels klingelt es an der Tür.

Richard zeigt auf die Tür und ruft: „Hallo!“

In diesem Alter sagt er: „Hallo!“, wenn sein Vater nach Hause kommt, und „Tschüss!“, wenn er das Haus verlässt.

 

 

Hier noch ein Beispiel für die Stützende Sprache (Scaffolding), bei der Sprache ebenfalls auf der Basis von Interaktion erworben wird.

Beispiel:

Erwachsener: „Oh, schau mal was das ist!“ (Aufmerksamkeit wird durch einen Ausruf auf das Bild gelenkt.)

Erwachsener: „Was ist das nur?“ (Es wird auf das Bild gedeutet und gefragt.)

Erwachsener: „Das ist ein/e ...“ (Nachdem das Kind mit Lächeln oder Babbeln geantwortet hat, wird das Objekt benannt.)

Kind: „(Ein/e) ...“

Erwachsener: „Ja, das stimmt. Das ist ein/e ...“ (Die Antwort des Kindes wird bestätigt und wiederholt.)

 

Sprache wird laut des Interaktionismus erworben durch wiederholtes Spiel, vertraute Routinen und wiederholte Handlungen, deren Abläufe immer ähnlich bleiben – also durch Interaktion. Mit zunehmender Entwicklung werden die Interaktionen immer vielfältiger, und das Kind übernimmt mehr und mehr den aktiven Teil. Das Gelernte wird nach und nach auf andere Situationen übertragen.  

  

[1] vgl. Leist-Villis, A. (2016): Elternratgeber Zweisprachigkeit – Informationen & Tipps zur zweisprachigen Entwicklung und Erziehung von Kindern. Stauffenburg

[2] vgl. Piaget, J. (1986): Sprechen und Denken des Kindes. Ullstein Taschenbuchverlag



Zusammenfassung


Behaviorismus

  • Zu Beginn des 20. Jahrhunderts von John B. Watson begründet und in den 50er Jahren durch Burrhus F. Skinner weiter erarbeitet.
  • Zentrale These: Spracherwerb erfolgt durch Imitation und Verstärkung (Lob).
  • Zentraler Kritikpunkt: Sprache ist zu komplex und vielschichtig, als dass sie durch Imitation und Verstärkung erklärt werden kann.


Nativismus 

  • Zu Beginn des 20. Jahrhunderts von John B. Watson begründet und in den 50er Jahren durch Burrhus F. Skinner weiter erarbeitet.
  •  Wurde vom US-amerikanischen Linguisten Noam Chomsky entwickelt.
  • Zentrale These: Spracherwerb erfolgt entlang angeborener sprachspezifischer Fähigkeiten (sog. „Universalgrammatik“).
  • Zentraler Kritikpunkt: Kinder erwerben auch unterschiedliche Sprachen mit völlig unterschiedlichen Grammatiken. Dies kann durch eine einzige „Universalgrammatik“ nicht erklärt werden.



Kognitivismus

  • Der wichtigste Vertreter des Kognitivismus ist Jean Piaget.
  • Zentrale These: Spracherwerb erfolgt auf der Basis von kognitiven Fähigkeiten, die sich durch die konkrete Erfahrung (Sinneserfahrung) mit der Welt bilden. (z.B. Objektpermanenz, Symbolverständnis, Theory of Mind)



Interaktionismus


  • Der Interaktionismus wurde von dem Psychologen Jerome Bruner entwickelt.
  • Zentrale These: Spracherwerb erfolgt durch die Interaktion mit der sozialen Umwelt, vor allem zwischen Eltern und Kind.
  • Sowohl das Kind als auch die soziale Umwelt haben angeborene Kompetenzen, so dass Spracherwerb stattfinden kann. (Lernfähigkeit und –bereitschaft, intuitives Elternprogramm)

 

 

Insgesamt lässt sich sagen, dass – je nach Perspektive – jede Spracherwerbstheorie bestimmte Aspekte des Spracherwerbs in den Vordergrund stellt: Imitation spielt für den Spracherwerb eine Rolle und die Verwendung von sprachlichen Elementen (zum Beispiel das Lallen während der Lallphasen oder die Verwendung bestimmter Wörter) lässt sich durchaus verstärken (Behaviorismus). Dem Spracherwerb liegen angeborene Fähigkeiten zugrunde (Nativismus), selbst wenn diese nicht durchgehend sprachspezifisch sind. Bestimmte kognitive Fähigkeiten (zum Beispiel Objektpermanenz, Symbolverständnis, Theory of Mind) sind Voraussetzungen für den Spracherwerb (Kognitivismus). Sprache bildet sich bei Kindern auf der Basis wiederholter gemeinsamer Handlungen und Interaktionen (Interaktionismus).



Spracherwerbtheorien und ihre Bedeutung für die alltagsintegrierte Sprachbildung Spracherwerbstheorien und ihre Bedeutung für die alltagsintegrierte Sprachbildung












(c) Udo Elfert 2021


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