Alltagsintegrierte Sprachbildung
Online- und Präsenzseminare Udo Elfert

Deutsch als Zweitsprache - Nur Deutsch im Kindergarten?


Auf der einen Seite haben Kinder, die Deutsch als Zweitsprache erwerben, häufig Sprachförderbedarf und zum Zeitpunkt der Einschulung manchmal einen unterdurchschnittlichen Sprachstand.

Auf der anderen Seite kann man beobachten, dass Kinder mit einer anderen Erstsprache (Muttersprache) als Deutsch in den Gruppen häufig miteinander in ihrer nicht-deutschen Erstsprache kommunizieren. Wenn diese Kinder von ihren Eltern abgeholt werden, dann sprechen die Eltern meist auch nicht Deutsch, sondern „ihre“ Sprache mit den Kindern.

 

Was läge da näher, als zu sagen: Die Kinder sprechen nicht hinreichend gut Deutsch, also müssen sie häufiger mit der deutschen Sprache in Kontakt kommen. Wenn sie mit der deutschen Sprache zu wenig in Kontakt kommen, dann sollte das geändert werden, dann sollte die Erstsprache/Muttersprache im Verhältnis zu Deutsch reduziert werden. Dann sollte man fordern, dass zumindest in der Kita und im Kindergarten „nur Deutsch“ gesprochen wird.

So kann man auch von Trägern und Einrichtungen lesen, die das Motto „Nur Deutsch im Kindergarten!“ zum Ziel haben; manchmal ist auch von einer „Deutschpflicht“ zu hören.

 

Aber wäre „Nur Deutsch im Kindergarten!“ überhaupt sinnvoll? Was wären die Konsequenzen?

Um das zu verstehen, lohnt es sich, zunächst einmal die historischen Hintergründe dieser „Bewegung“ anzuschauen. Dann geht es darum, zu untersuchen, ob ein Quasi-Sprachverbot mit den Prinzipien des Zweitspracherwerb überhaupt kompatibel ist. Schließlich ist auch zu fragen, welche Konsequenzen ein solches Ziel für die sozial-emotionale Entwicklung der Kinder mit Deutsch als Zweitsprache (DaZ) hätte.

 

Historische Hintergründe von „Nur Deutsch im Kindergarten!“

In den 1980er Jahren entwickelte sich in den USA eine Bewegung, welche die englische Sprache stärker in den Vordergrund stellte und dies auch gesetzlich verankerte. Diese sog. „English-Only-Movement“ führte dazu, dass in staatlichen und behördlichen Einrichtungen ausschließlich Englisch gesprochen werden sollte. Betroffen davon waren in der Folge auch US-amerikanische Schulen und Preschools (Kindergärten).

Die Bewegung schwappte über den Atlantik auch nach Deutschland und führte zu einer entsprechenden „Nur-Deutsch-im-Kindergarten“-Bewegung.

In den USA hat man mit dem Prinzip des „English-Only“ zumindest in Kindergärten (und Schulen) keine gute Erfahrung gemacht. Die Kinder sprechen dadurch kein besseres Englisch. Die Kritik an der US-amerikanischen „English-Only“-Bewegung reicht von „reiner Symbolpolitik“ bis hin zu „Sprachtotalitarismus“.

  


Was wären die Folgen eines konsequent verfolgten „Nur-Deutsch-im-Kindergarten“-Ziels?


Für die pädagogischen Fachkräfte

  • In bilingualen Einrichtungen ist das Prinzip „Nur Deutsch“ selbstverständlich ohnehin nicht umsetzbar. Der Kern bilingualer Einrichtungen ist gerade die Verwendung von zwei oder mehreren Sprachen.
  • Dürften keine anderen Sprachen als Deutsch verwendet werden, dann würden die pädagogischen Fachkräfte, selbst wenn sie eine weitere Sprache gut sprechen können, in Notsituationen und auch in der Eingewöhnungsphase mit den Kindern nicht in ihrer Erstsprache sprechen (Selbstverständlich sollten die pädagogischen Fachkräfte grundsätzlich die entsprechenden Regeln - '1 Sprache - 1 Person' bzw. '1 Sprache - 1 Situation' - einhalten und mit den Kindern in einer Sprache sprechen, aber in Notsituationen und (eingeschränkt) in der Eingewöhnungsphase ist es manchmal angemessen, mit dem betreffenden Kind in seiner Erstsprache zu sprechen. Hier dominieren dann die pädagogischen Aspekte die Sprachbildungsaspekte.)
  • Bei Elterngesprächen mit den Eltern, die kein Deutsch sprechen, dürften die pädagogischen Fachkräfte nicht in der Elternsprache sprechen, obwohl sie dies könnten.
  • Der Schatz der sprachlichen Vielfalt, den die pädagogischen Fachkräfte miteinbringen, würde verloren gehen.

 

Für die Eltern

  • Sprechen die Eltern kein oder kaum Deutsch, sind zielführende Elterngespräche nicht möglich. Spricht eine pädagogische Fachkraft die nicht-deutsche Sprache der Eltern, kann dies von großem Vorteil für Elterngespräche sein. Warum sollte das nicht genutzt werden?
  • Werden andere Sprachen als Deutsch aus dem Kindergarten ausgeschlossen, wie sollen Eltern, die kein oder kaum Deutsch sprechen, mit ihren eigenen Kindern in Bring- und Abholsituationen kommunizieren. Den Eltern bliebe dann nichts anderes übrig, als gar nicht mit ihren Kindern zu sprechen, in sehr gebrochenem bzw. rudimentärem Deutsch mit ihren eigenen Kindern zu sprechen oder beim Sprechen in ihrer Sprache den Eindruck zu haben, etwas Verbotenes zu tun. Alle drei Varianten sind nicht hilfreich und nicht zielführend.

 

Für die Kinder

  • Kinder mit DaZ (Deutsch als Zweitsprache) fühlen sich gerade beim Eintritt in die pädagogische Einrichtung mit ihrer bislang erworbenen Erstsprache defizitär. Sie nehmen wahr, dass die pädagogischen Fachkräfte und die meisten Kinder eine Sprache sprechen, die sie weder sprechen noch verstehen. Sie fühlen sich mit ihrer bislang erworbenen Sprache nicht selbstwirksam und oft hilflos.
  • Was liegt für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache näher, als mit anderen Kindern, welche dieselbe Erstsprache sprechen, auch in dieser Sprache zu kommunizieren. Hier fühlen sie sich verstanden, lebendig, selbstsicher und selbstwirksam.
  • Außerdem haben die Kinder in diesen Situationen die Möglichkeit ihre nicht-deutsche Erstsprache zu festigen. Und die Erstsprache gilt als Grundlage für die Zweitsprache!

  

Umsetzbarkeit

Selbst wenn das Prinzip „Nur-Deutsch-im-Kindergarten“ hilfreich wäre, gäbe es große Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung.

Beispiel: 5 Kinder, alle erstsprachig türkischsprachig, spielen in einer Kleingruppe und sind in regem kommunikativem Austausch. Sie sprechen Türkisch miteinander. Um das Prinzip „Nur Deutsch“ umzusetzen, müsste eine pädagogische Fachkraft zu den Kindern gehen und die Kinder auf die Regel hinweisen, dass sie in Deutsch miteinander sprechen sollten. Dies würden die Kinder möglicherweise auch zunächst tun. In vielen Fällen ist aber davon auszugehen, dass die Kinder kurze Zeit, nachdem sich die pädagogische Fachkraft von diesen entfernt hat, wieder in ihrer Sprache miteinander sprechen würden.

Beispiel: Es findet ein wichtiges Gespräch mit Eltern statt, die kein Deutsch sprechen. Eine pädagogische Fachkraft spricht die nicht-deutsche Sprache der Eltern. Es wäre den Eltern kaum zu vermitteln, dass im Gespräch nicht in ihrer Sprache gesprochen werden kann, obwohl die/der Erzieher_in die Sprache spricht.

Eine konsequente Umsetzung von „Nur Deutsch“ käme einem Sprachverbot gleich und ließe sich nur mithilfe von Zwang und Verbots-Regeln durchsetzen.  

  


Wertschätzung der Erstsprache im Rahmen einer interkulturellen Bildung

  • Ein „Sprachverbot“ spricht nicht gerade für eine Wertschätzung der nicht-deutschen Sprache. Gerade Kinder empfinden dies, wenn ihre nicht-deutsche Erstsprache nicht gewünscht ist.
  • Den anderen Kindern geht durch das „Verbot“ bzw. Nicht-Erwünschtsein von anderen Sprachen als Deutsch ein ganz entscheidender Aspekt von interkultureller Bildung verloren. Mehr als eine Sprache sprechen zu können, ist ein großer Schatz. An diesem Schatz können monolingual deutschsprachige Kinder im Rahmen der interkulturellen Bildung in Einrichtungen, die das Prinzip „Nur-Deutsch“ verfolgen, nicht teilhaben.

  

Verkennung der Grundlagen des Zweitspracherwerbs

Auch aus rein formalen Gesichtspunkten ist das Prinzip „Nur-Deutsch-im-Kindergarten“ nicht zielführend. Es gibt einige Grundlagen des Zweitspracherwerbs, die dem diametral entgegenstehen.

  • Das Prinzip der „Herzenssprache“: Eltern sollten mit ihren Kindern in ihrer Sprache, in ihrer „Herzenssprache“ sprechen. Dies führt zu einer sicheren Bindung zum Elternteil und zum differenzierten Erwerb der Erstsprache – welche das auch immer ist – in all ihren Aspekten. Sprechen Eltern mit ihrem Kind bei Bring- und Abholsituationen in Deutsch, obwohl Deutsch nicht die „Herzenssprache“ des Elternteils ist, kann dies zu Irritationen führen, die sich negativ sowohl auf den Erst- als auch auf den Zweitspracherwerb auswirken. Wenn der Elternteil mit seinem Kind im Kindergarten bzw. in der Kita ein gebrochenes, rudimentäres Deutsch spricht, kann dies sogar negative Auswirkungen auf den formalen Spracherwerb (Aussprache, Grammatik, Wortschatz) haben.
  • Das Prinzip „1 Sprache – 1 Person“ bzw. „1 Sprache – 1 Situation“: Kinder, die sich mitten im Erst- und Zweitspracherwerb befinden, brauchen klare Anhaltspunkte, wann welche Sprache von wem gesprochen wird. Dadurch entwickeln sie die sog. „sprachliche Trennungsfähigkeit“, die es ihnen ermöglicht, zwei oder mehr Sprachen klar voneinander zu trennen und nicht miteinander zu vermischen. Ermöglicht wird dies dadurch, dass ein Elternteil eine Sprache mit dem Kind spricht (Prinzip „1 Sprache – 1 Person“) oder je nach Situation eine Sprache gesprochen wird („1 Sprache – 1 Situation“). Spricht ein Elternteil jetzt im Kindergarten mal Deutsch, mal nicht oder vielleicht sogar zuhause mal Deutsch und mal nicht, kann dies die sprachliche Trennungsfähigkeit beim Kind stören und zur Sprachmischung/Sprachfusion führen.
  • Die Erstsprache ist Grundlage für die Zweitsprache: Eine Zweitsprache (z.B. Deutsch) kann nur so gut erworben werden wie die Erstsprache. Ein Kind nutzt die beim Erstspracherwerb erworbenen Kompetenzen und kann sie auf die Zweitsprache übertragen. Oder umgekehrt formuliert: Wenn es schon beim Erstspracherwerb zu Hindernissen und Auffälligkeiten kommt, dann übertragen sich diese auf die Zweitsprache. Je besser und mit je weniger Auffälligkeiten die Erstsprache erworben wird, desto besser kann auch die Zweitsprache erworben werden. – Indem die Kinder mit ihren Peers (Gleichaltrigen, Freunden) in ihrer nicht-deutschen Erstsprache sprechen, unterstützen, stabilisieren und festigen sie ihre Erstsprache, und dies ist eine Grundlage und Voraussetzung für eine ungehinderten Zweitspracherwerb.

Das Modell von „Sprache als Eisberg“ erklärt sehr gut, inwiefern die Erstsprache die Basis für die Zweitsprache darstellt.

  


Zweitspracherwerb in bilingualen Einrichtungen

Es gibt eine ganze Reihe von bilingualen Einrichtungen, in denen neben Deutsch auch eine andere Sprache, die meist die nicht-deutsche Erstsprache der Kinder ist, gesprochen wird. Die Erfahrungen zeigen, dass die Kinder in diesen Einrichtungen häufig sehr gut Deutsch erwerben, obwohl – oder vielleicht vielmehr: weil – Deutsch nur als eine Sprache gleichwertig neben einer anderen Sprache steht.

  


Was also tun im Rahmen der alltagsintegrierten Sprachbildung?

Zunächst einmal gilt es, die Grundregeln und Prinzipien des Zweitspracherwerbs zu berücksichtigen.

  • Die wichtigste Grundlage in diesem Zusammenhang ist, dass die Erstsprache Grundlage für die Zweitsprache ist: Die Kinder stabilisieren und fördern ihre Erstsprache, wenn sie untereinander in dieser Sprache sprechen.
  • Für Elterngespräche ist entscheidend, dass im Rahmen der Erziehungspartnerschaft eine gute Beziehung hergestellt wird und es zu einem intensiven Austausch kommt. Dafür ist es unerheblich, in welcher Sprache die Gespräche stattfinden.
  • In der Eingewöhnungsphase und in Notsituationen ist das primäre Ziel, dass das Kind „ankommt“, sich verstanden fühlt und sich sicher fühlt. Welche Sprache gesprochen wird, ist für das Erreichen dieser Ziele irrelevant.
  • Für die sozial-emotionale Entwicklung ist entscheidend, dass sich das Kind wertgeschätzt fühlt, auch in seiner nicht-deutschen Erstsprache, dass es Selbstsicherheit entwickelt und Selbstwirksamkeit – auch sprachliche Selbstwirksamkeit – erfährt. All dies kann ein Kind erfahren, wenn es mit Altersgenossen (auch) in seiner Sprache spricht.
  • Qualität vor Quantität: Es kommt nicht so sehr darauf an, wieviel Sprachanregung ein Kind in der deutschen Sprache hat, als vielmehr, welche Qualität die Situationen haben: Entwickelt das Kind Sprechfreude? Werden Grundlagen der Sprachbildung (Blickkontakt, Abwarten, Auf-Augenhöhe-Sprechen, Aussprechen lassen, Interesse zeigen usw.) berücksichtigt? Werden Sprachbildungsstrategien eingesetzt?
  • Studien haben gezeigt, dass schon 1,5 - 2 Stunden qualitativ hochwertige Sprachanregung pro Woche genügen, damit ein Kind eine Zweitsprache erwerben kann. Untersucht wurde dies bei Kindern, die zunächst mit ihren gehörlosen Eltern die Gebärdensprache erworben haben (die Gebärdensprache ist in diesem Fall dann die Erstsprache) und in der Kita die Lautsprache als Zweitsprache. Mit "qualitativ hochwertig" sind vor allem dialogische Gesprächssituationen gemeint und nicht solche, in denen nur andere sprechen, ohne dass das Kind aktiv am Gespräch beteiligt ist. - Nun mag es Unterschiede zwischen eine Lautsprache als Zweitsprache und eine weitere Lautsprache als Zweitsprache geben, aber 1,5 - 2 Stunden qualitativ hochwertige Sprachanregung pro Woche gibt die Größenordnung an, um die es geht. Es bestätigt das o.g. Motto: "Qualität statt Quantität".
  • Entscheidend für den Erwerb der Zweitsprache Deutsch ist vor allem auch die Motivation des betreffenden Kindes, Deutsch zu erwerben. Dies geschieht dadurch, dass die nicht-deutschen Erstsprachen wertgeschätzt werden und nicht durch fehlende Wertschätzung und Verbote der Erstsprachen. Erst Gleichwertigkeit führt zur Motivation für den Zweitspracherwerb. Fehlende Wertschätzung führt eher zur Reaktanz. [Kleiner Exkurs zur Motivation, Deutsch als Zweitsprache zu erwerben: Neben der Wertschätzung der nicht-deutschen Erstsprache ist für die Motivation eines Kindes, Deutsch als Zweitsprache zu erwerben, entscheidend, ob die Eltern in ihrem Umfeld auch Deutsch sprechen. Die Eltern sollen natürlich nicht mit ihrem Kind Deutsch sprechen, sofern dies nicht ihre Herzenssprache ist, aber zum Beispiel mit den Nachbarn, im Supermarkt oder mit den pädagogischen Fachkräften der Kita. Das Kind sieht seine Eltern Deutsch sprechen und stellt dann fest: 'Meine Eltern sprechen Deutsch. Deutsch ist offensichtlich wichtig.' Das betreffende Kind bekommt dadurch eine ganz andere Motivation, selbst auch Deutsch zu erwerben.] 


Es gibt Einrichtungen bzw. Gruppen, in denen ist der Anteil von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache ausgesprochen hoch – 90% oder höher. Hier muss man in der Tat manchmal dafür sorgen, dass die deutsche Sprache nicht zu kurz kommt. Zur Umsetzung bieten sich klare Regeln an, wann bzw. in welchen Situationen Deutsch gesprochen werden sollte:

  • im Morgenkreis,
  • beim Essen,
  • wenn ein Kind zur Kleingruppe kommt, das die nicht-deutsche Erstsprache nicht spricht,
  • in anderen, klar umgrenzten Situationen, zum Beispiel bestimmten Spielsituationen.

In all diesen Fällen sollte dann Deutsch die „allgemeine Verkehrssprache“ sein. 


(c) Udo Elfert 2021


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