Warum existiert bei uns Menschen Sprache und bei Tieren nicht?
Tiere kommunizieren zwar miteinander, aber Tiere sind keiner Sprache im linguistischen Sinn mächtig. Was unterscheidet uns Menschen so sehr von Tieren, dass Menschen seit etwa 100.000 Jahren sprechen und die Sprache seit so langer Zeit von einer Generation an die nächste weiter gegeben wird?
Warum führen schon 2 jährige Kinder Dialoge? Warum finden sich schon bei Kindern höchst komplexe grammatikalische Strukturen? Warum haben sechsjährige Kinder mehrere 1000 Wörter im aktiven Wortschatz und warum finden wir all diese Fähigkeiten bei Tieren nicht?
Genau diese Frage hat sich auch der US-amerikanische Anthropologe Michael Tomasello gestellt.
Früher dachte man, dass Tiere nicht in der Lage seien eine wirklich komplexe Sprache zu entwickeln, weil entweder die Gehirnkapazitäten von Tieren nicht ausreichten oder Tiere nicht in der Lage seien, eine große Anzahl von Signalen – also Sprachlauten - zu produzieren.
Untersuchungen haben allerdings gezeigt, dass die Verarbeitungskapazitäten von tierischen Gehirnen durchaus ausreichen würden, um auch Sprache im linguistischen Sinn entwickeln zu können. Auch finden sich bei Tieren eine Vielzahl unterschiedlichster Signale, die als Laute fungieren könnten. Man denke zum Beispiel an Rabenvögel oder Papageien, aber weder Rabenvögel noch Papageien findet man im tiefen Dialog mit Gesprächspartnern oder in Gruppen, in denen sich Märchen und Geschichten erzählt werden.
Michael Tomasello geht von zwei grundlegenden Fähigkeiten aus, die bei uns Menschen vorhanden sind und bei Tieren i.d.R. nicht. Diese beiden Kompetenzen stellen in Kombination die Grundlage zur Entwicklung einer Sprache im linguistischen Sinn dar.
Diese beiden notwendigen Fähigkeiten für den Spracherwerb sind:
Die Wichtigkeit dieser beiden nonverbalen Komponenten für den Spracherwerb wird auch im Rahmen der kindlichen Entwicklung deutlich:
Die erste nonverbale Kompetenz im Allgemeinen stellt das Herstellen und Halten von Blickkontakt dar. Und die erste gestische Kompetenz eines Kindes ist in der Regel die Zeigegeste.
Tiere sind in der Regel nicht zur Aufnahme und zum Aufrechthalten eines längeren Blickkontaktes in der Lage. Und die allermeisten Tiere können auch einer Zeigegeste nicht folgen. Für Michael Tomasello sind der Blickkontakt und die Zeigegeste notwendige Voraussetzungen für den Erwerb von Sprache. Und zwar sowohl im Hinblick auf die Entwicklung von Sprache in der Menschheitsgeschichte, als auch im Hinblick auf den individuellen Spracherwerb.
Diese beiden basalen Kommunikationskompetenzen – der Einsatz und das Aufrechterhalten von Blickkontakt und der Einsatz und das Folgen der Zeigegeste - kumulieren in der menschlichen Kommunikation im triangulären Blickkontakt.
Triangulärer Blickkontakt bedeutet, dass der Aufmerksamkeitsfokus eines Kindes (oder auch eines Erwachsenen) wechselt zwischen einem Objekt und einer Bezugsperson. Mit dem Anschauen des Gesprächspartners verweist das Kind auf das Objekt. Beim triangulären Blickkontakt erwartet das Kind von der Bezugsperson einen Respond, also eine Reaktion auf das eigene Verhalten. Diese Reaktion kann non-verbal, lautlich oder verbal (also mittels Sprache bzw. Wörtern) erfolgen.
Beispiel
In einem Raum befinden sich ein Kind, ein Objekt (z.B. ein Ball oder eine Puppe) und eine Bezugsperson. Das einjährige Kind schaut wechselseitig das Objekt und die Bezugsperson an. Es ergibt sich dadurch ein Dreieck zwischen dem Kind, dem Objekt und der Bezugsperson. Genau dies wird als triangulärer Blickkontakt bezeichnet.
Der trianguläre Blickkontakt eines Kindes ist im Grunde eine Aufforderung des Kindes an die erwachsene Person, einen Respond zu geben, also auf das Kind bzw. das Objekt zu reagieren. Unterstützt wird der trianguläre Blick häufig durch die Zeigegeste und das Wort „Da!“
Auch der trianguläre Blickkontakt stellt eine für den Spracherwerb ganz basale notwendige Kompetenz dar.
Der Blickkontakt selbst ist eine notwendige Voraussetzung für den Spracherwerb: Ohne das Herstellen eines Blickkontakts und ohne die Fähigkeit, diesen Blickkontakt aufrecht zu erhalten, sind weder ein Respond möglich, noch der trianguläre Blickkontakt.
Für die alltagsintegrierte Sprachbildung sind diese Zusammenhänge insofern relevant, als dass sie zeigen, wie wichtig es ist, Blickkontakt aufzunehmen, ihn zu halten, abzuwarten und allen Beteiligten Zeit zu geben, den Blickkontakt aufzunehmen, ein freundliches Gesicht zu machen (damit das Kind sich „traut“, den Blickkontakt zu halten), den triangulären Blickkontakt eines Kindes wahrzunehmen und zu nutzen sowie darauf einen positiven Respond zu geben.
Beispiel
Ein Kind (1; 6 Jahre) und ein Erwachsener befinden sich zusammen in einem Raum. Auf dem Boden liegt ein Ball. Das Kind schaut wechselseitig den Ball an und dann den Erwachsenen. Der Erwachsene registriert den triangulären Blickkontakt des Kindes, begibt sich auf Augenhöhe, stellt Blickkontakt her und macht ein freundliches Gesicht. Der Erwachsene fühlt sich durch den triangulären Blickkontakt des Kindes aufgefordert, einen Respond zu geben. Der Erwachsene sagt: „Da liegt ja ein Ball! Was für ein schöner Ball. Möchtest du gerne den Ball haben?“ (3-malige Wiederholung des Wortes „Ball“) Das Kind wiederholt den triangulären Blickkontakt und unterstützt ihn mit einer Zeigegeste auf das Objekt (den Ball). Beim Zeigen auf den Ball sagt das Kind: „Da, Ba(ll).“
Literatur: Tomasello, Michael. Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. 3. Auflage (2009). Berlin. Suhrkamp Verlag
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