Was ist eigentlich Sprache? - Jemand, der sich bislang nicht mit der Frage beschäftigt hat, wird vielleicht sagen: "Nun ja, wir sprechen halt miteinander. Sprache dient der Kommunikation und mithilfe von Sprache können wir Menschen uns verständigen."
Wenn sich jemand schon etwas mehr mit dieser Frage beschäftigt hat, wird er/sie vielleicht sagen: "Sprache besteht aus Wörtern. Bei Sprache gibt es eine Aussprache, eine Grammatik und einen Wortschatz." Wer linguistische Grundkenntnisse hat, wird vielleicht antworten: "Sprache findet auf verschiedenen Ebenen statt: Phonetik, Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik/Lexikon, Pragmatik. Es gibt dabei zwei Aspekte: Den Aspekt der Sprachproduktion (expressiver Aspekt) und den Aspekt des Sprachverständnisses (rezeptiver Aspekt).
All das ist natürlich richtig, aber Sprache ist soviel mehr als nur Aussprache, Grammatik, Wortschatz und Sprachverständnis.
Sprache dient der Gestaltung von Beziehungen (soziale Ebene) und dient dem Ausdruck von Gefühlen und Emotionen (emotionale Ebene). Sprache ist Träger und Ausdruck von Kultur (kulturelle Ebene). Sprache ist Werkzeug des Denkens (kognitive Ebene) und Sprechen, also der Sprechakt, ist Handeln (Handlungsebene, pragmatische Ebene). Mit Sprache können Informationen weitergegeben werden, Informationen erfragt werden, Bedürfnisse geäußert werden und Aufträge erteilt werden. Sprache ist Ausdruck von Identität und Individualität. All diese "tieferen" Funktionen von Sprache bleiben bei oberflächlicher Betrachtung verborgen.
Beim Umgang mit Kindern ist es aber umso wichtiger, gerade die eben genannten Funktionen von Sprache zu berücksichtigen:
In den ersten Phasen des Spracherwerbs geht es bei den Kindern halt noch nicht um Aussprache oder Grammatik. Zunächst geht es den Kindern darum, festzustellen, was Sprache denn eigentlich ist und welche Funktionen Sprache hat. Auch bei älteren Kindern wirken diese tieferen Ebenen im Hintergrund immer mit und bestimmen die Qualität des Spracherwerbs.
So hat man bei Kindern, die dann mit 3 oder 4 Jahren eine schwere Sprachentwicklungsstörung entwickelt haben, festgestellt, dass diesen Kindern die eigentlichen Funktionen von Sprache gar nicht bewusst sind. Für diese Kinder ist Sprache eine Art "angenehme akustische Begleitung".
Sprache ist wie ein Eisberg im Wasser
Vielleicht haben Sie schon einmal davon gehört, dass sich der größte Teil eines im Wasser schwimmenden Eisberges unter der Wasseroberfläche befindet. (Dies ist der Titanic zum Verhängnis geworden.) Bei Sprache verhält es sich ähnlich: Über der Wasseroberfläche befinden sich Aussprache, Grammatik und Wortschatz. Der größte Teil von Sprache befindet sich unter der Oberfläche und bleibt verborgen.
Das, was sich über der Wasseroberfläche befindet, beantwortet die Frage: "Woraus besteht Sprache?" - Aus Lauten (Phonetik, Phonologie), aus Wörtern (Semantik/Lexikon) und aus Regeln (Grammatik, also Morphologie und Syntax).
Das, was unter der Wasseroberfläche zu finden ist, beantwortet die Frage: "Welche Funktionen hat Sprache?" - Sozial-emotionale, kulturelle, pragmatische (das Handeln mit Sprache betreffend), kognitive Funktionen. Die Entdeckung dieser Funktionen ist für Kinder in den frühen Phasen des Spracherwerbs aber viel wichtiger als die Beantwortung der Frage: "Woraus besteht Sprache?" - Deshalb sollte in der alltagsintegrierten Sprachbildung bei U3-Kindern der Schwerpunkt auf dem liegen, was sich unter der "Wasseroberfläche" befindet.
Das Modell von "Sprache als Eisberg im Wasser" hat auch für den Zweitspracherwerb Relevanz: Das Modell verdeutlicht, dass die Erstsprache Basis für die Zweitsprache ist. Wenn eine Zweitsprache erworben wird, wird diese nicht völlig neu erworben, sondern setzt sich auf die in der Erstsprache erworbenen sprachlichen Kompetenzen drauf. Schaut man nur über der Wasseroberfläche, dann erscheinen Erst- und Zweitsprache wie zwei vollständig voneinander getrennte Sprache. Schaut man unter die Wasseroberfläche, sieht man, dass die beiden Sprachen "in der Tiefe" zusammenhängen.
Für die alltagsintegrierte Sprachbildung ist es besonders wichtig, nicht nur auf die formalen Aspekte von Sprache (Aussprache, Grammatik, Wortschatz) zu achten, sondern vor allem auch die Funktionsaspekte von Sprache - also das, was sich unter der Wasseroberfläche befindet - in den Fokus zu setzen.
(c) Udo Elfert 2021