Alltagsintegrierte Sprachbildung
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Strategien beim Zweitspracherwerb - Zweitspracherwerbsstrategien


Zweitspracherwerbsstrategien sind Strategien, die Kinder im Zweitspracherwerb (Deutsch als Zweitsprache, DaZ) einsetzen, um den Erwerb der Zweitsprache zu forcieren, sich selbst beim Zweitspracherwerb zu unterstützen und erworbene Kompetenzen zu festigen.

Zweitspracherwerbsstrategien sind insofern ein interessantes Phänomen, weil sie Ausdruck von Selbstbildungskompetenzen sind: Auch ohne „Anleitung“ unterstützen sich die Kinder selbst beim Spracherwerb, hier beim Zweitspracherwerb.


Man kann sprachliche Zweitspracherwerbsstrategien unterscheiden von sozialen Zweitspracherwerbsstrategien.

 

Zu den sprachlichen Strategien zählen:

  • Code-Switching (Sprachwechsel)
  • Sprachliche Transfers
  • Die Annahme: Das Gesagte ist situationsrelevant.

 

Zu den sozialen Strategien zählen:

  • Tu so, als ob du das Gesagte verstanden hättest.
  • Erwecke den Eindruck, dass du die Sprache (Zweitsprache) sprechen kannst.
  • Vertraue auf die Hilfe deiner Freunde.

 


Sprachliche Strategien

 

Code-Switching (Sprachwechsel)

Code-Switching (Sprachwechsel) bedeutet, dass ein Kind im Zweitspracherwerb zwischen der Zweitsprache und der Erstsprache wechselt.

Beispiel: Ein Kind erwirbt Deutsch als Zweitsprache und Englisch als Erstsprache. Das Kind möchte den Satz sagen: „Gestern war ich mit meinen Eltern im Zoo, und da habe ich viele Bären gesehen.“ Das Kind kennt die Wörter „Eltern“ und „Bären“ nicht auf Deutsch, nur auf Englisch. Das Kind beginnt den Satz auf Deutsch: „Gestern war ich mit meinen …“, dann wechselt es auf Englisch und sagt:“… parents…“, dann wieder zurück auf die deutsche Sprache: „… im Zoo, und da habe ich viele…“, dann wieder ein Wechsel in die englische Sprache: „… bears…“, zurück in die deutsche Sprache: „… gesehen.“ Insgesamt sagt das Kind also: „Gestern war ich mit meinen parents im Zoo, und da habe ich viele bears gesehen.“

Die mittels Code-Switching aus der Erstsprache verwendeten Elemente können einzelne Wörter, Satzglieder (Satzteile) oder ganze Sätze umfassen.

 

Warum setzen die Kinder beim Zweitspracherwerb Code-Switching ein? Welchen Vorteil hat Code-Switching für das Kind?

Nehmen wir das Beispiel von oben: Wenn das Kind kein Code-Switching einsetzen würde, dann würde es nach: „Gestern war ich mit meinen…“ vielleicht stocken und überlegen, eine Pause machen. Es würde sich vielleicht entscheiden, dass das, was es sagen möchte, doch nicht so wichtig ist, würde sich vielleicht umdrehen und gehen, würde sich etwas anderem zuwenden, würde vielleicht beginnen, über etwas anderes zu sprechen. Vielleicht würde auch ein anderes Kind kommen, das Gespräch unterbrechen und etwas zu einem ganz anderen Thema sagen. Wie auch immer: Der Gesprächsfluss wäre an diesem Punkt unterbrochen. Durch Einsatz des Code-Switchings (Sprachwechsel) bleibt das Kind im Sprechfluss. Es kann seine Gedanken äußern und wird nicht unterbrochen bzw. unterbricht sich nicht selbst. Es bleibt im Dialog mit dem Gegenüber. – Vielleicht hat das Kind auch eine Gesprächspartnerin, die das vom Kind Gesagte versteht und korrektives Feedback (verbesserte Wiederholung) einsetzt. Im obigen Beispiel: „Ah, gestern warst du mit deinen Eltern im Zoo, und da hast du viele Bären gesehen.“ Das Kind hätte wieder etwas gelernt, zwei neue Wörter: „Eltern“ und „Bären“.

  


Sprachliche Transfers

Sprachliche Transfers sind dem Code-Switching ähnlich. Hier werden allerdings nicht Wörter, Satzglieder oder Sätze aus der Erstsprache übernommen, sondern Regeln, vor allem grammatische Regeln.

Beispiel: Nehmen wir als Beispiel wieder das Kind, das Englisch als Erstsprache und Deutsch als Zweitsprache erwirbt. Es möchte denselben Satz wie im vorhergehenden Beispiel sagen: „Gestern war ich mit meinen Eltern im Zoo, und da habe ich viele Bären gesehen.“ Das Kind kennt alle Wörter des Satzes auf Deutsch, allerdings weiß es nicht, wie der Plural (Mehrzahl) von „Bär“ lautet. Setzt das Kind hier einen sprachlichen Transfer ein, nimmt es die Regel aus dem Englischen „bear“ (Singular, Einzahl), „bears“ (Plural, Mehrzahl), also die s-Regel, wendet sie aber auf das deutsche Wort „Bär“ an. Das Kind sagt also: „Gestern war ich mit meinen Eltern im Zoo, und da habe ich viele Bärs gesehen.“

Der Effekt der Zweitspracherwerbsstrategie „Sprachliche Transfers“ ist dem des Code-Switchings (Sprachwechsel) ähnlich: Das Kind bleibt im Sprechfluss, unterbricht sich nicht und wird nicht unterbrochen, kann seine Gedanken zu Ende führen, bleibt im Dialog und hat vielleicht eine_n Gesprächspartner_in, die/der das Gesagte versteht und korrektives Feedback (verbesserte Wiederholung) einsetzt: „Ah, gestern warst du mit deinen Eltern im Zoo, und da hast du viele Bären gesehen.“ Das Kind hätte wieder etwas gelernt, hier, wie der Plural von „Bär“ im Deutschen heißt: „Bären“.

  

Die Annahme: Das Gesagte ist situationsrelevant

Was machen wir Erwachsenen, wenn uns etwas in einer Fremdsprache, die wir (noch) nicht gut beherrschen, gesagt wird und wir kaum etwas verstehen? – Wir suchen in unserem inneren Vokabelheft nach Wörtern, die wir kennen und versuchen diese in einen Zusammenhang zu bringen, um den Inhalt des Gesagten zu erschließen.

Kinder gehen beim Zweitspracherwerb oftmals anders vor: Viele Kinder im Zweitspracherwerb gehen davon aus, dass das, was gerade gesagt wurde, etwas mit der Situation zu tun hat, in der man sich befindet. Bei Kindern ist dies noch häufiger der Fall als bei Erwachsenen: Wenn eine erwachsene Person etwas zu einem Kind sagt, dann hat das oft etwas mit der Situation zu tun, in der das Kind sich aktuell befindet.

Beispiel: Ein Kind, das Deutsch als Zweitsprache erwirbt, möchte gerne zum Spielen in den Außenbereich gehen. Draußen regnet es stark. Das Kind geht zur Garderobe in den Flur, um sich die Schuhe anzuziehen. Ein_e Erzieher_in geht aus der Tür des Gruppenraumes in den Flur, schaut kurz aus dem Fenster (es regnet…), dann auf die Stiefel, schaut das Kind an und sagt: „Ziehe dir bitte die Stiefel an, weil es draußen regnet.“ Das Kind hat rein sprachlich kaum etwas verstanden, weil es die Wörter (noch) nicht kennt. Was macht das Kind? Es hat gesehen, dass die Erzieherin aus dem Gruppenraum kam, kurz durch das Fenster nach draußen geschaut hat (es regnet draußen…), dann auf die Stiefel geblickt hat und währenddessen etwas gesagt hat. Dies setzt das Kind mit seinem eigenen Verhalten und seiner eigenen Motivation – nämlich nach draußen zu gehen – in Verbindung und erkennt: „Die Erzieherin wird wohl gesagt haben, dass ich mir die Stiefel anziehen soll, weil es draußen regnet.“ – Der Effekt: Das Kind hat das Gesagte verstanden (wenn auch nicht rein sprachlich), und vielleicht konnte das eine oder andere (neue) Wort ins semantische Lexikon (in den Wortschatz) aufgenommen werden; vielleicht die Wörter „regnet“ oder „Stiefel“.

  


Soziale Strategien

 

Tu so, als ob du das Gesagte verstanden hättest

Wie verhalten sich viele Erwachsene, wenn ihnen etwas in einer Fremd- oder Fachsprache gesagt wird, und man versteht kaum etwas? – Viele nicken dann einfach und tun so, als ob sie das Gesagte verstehen würden. Dieses Verhalten hat zum Ziel, den Dialogpartner weitersprechen zu lassen und zu hoffen, dass man sich aus dem Gesagten mehr und mehr erschließen kann, um was es inhaltlich denn eigentlich geht.

Was ist die Konsequenz aus diesem Verhalten? – Die positive Konsequenz ist, dass das Gespräch im Fluss bleibt. Würde man sofort beim ersten Wort, das man nicht versteht, nachfragen, käme der Dialog nicht weit. Wenn man bei jedem zweiten oder dritten Wort nachfragte, würde man wahrscheinlich weniger vom Gesagten verstehen, als wenn man den Gesprächspartner einfach weitersprechen lässt.

Die Strategie „Tu-so-als-ob-du-das-Gesagte-verstehen-würdest“ setzen auch Kinder ein. In Verbindung steht diese Strategie mit der nächsten genannten Zweitspracherwerbsstrategie; ebenfalls eine soziale So-tun-als-ob-Strategie.

  

Erwecke den Eindruck, dass du die Sprache (Zweitsprache) sprechen kannst

Die Kinder tun also so, als ob sie die Zweitsprache sprechen können. Das betreffende Kind nimmt eines der Wörter, die es in der Zweitsprache schon sprechen kann, und beginnt zu sprechen. Es spricht einfach weiter. Kennt es Wörter der Zweitsprache nicht, nimmt es diejenigen Wörter aus der Erstsprache (Code-Switching, Sprachwechsel). Kennt es bestimmte grammatische Regeln der Zweitsprache nicht, nimmt es die Regeln aus der Erstsprache (Sprachliche Transfers). Es spricht einfach weiter. Wenn gar nichts mehr geht, spricht das Kind vielleicht auch „nur“ im Sprechrhythmus und in der Prosodie der Zweitsprache. Es orientiert sich an der Situation (Situationsrelevanz) und tut im Dialog so, als es das Gesagte verstanden hätte. Es tut so, als ob es die Zweitsprache sprechen könne, und genau das führt dazu, dass das Kind die Zweitsprache immer besser sprechen kann. – Es handelt sich hierbei um eine ausgesprochen wirksame Zweitspracherwerbsstrategie!

  


Vertraue auf die Hilfe deiner Freunde

Eine weitere wichtige Zweitspracherwerbsstrategie stellt das Vertrauen auf die Hilfe der Freunde, auf die Hilfe der Peers (Peer-Gruppen-Interaktionen), auf die Hilfe der Gleichaltrigen dar.

Die Kinder im Zweitspracherwerb sagen sich: Wenn du etwas nicht verstanden hast, schaue, was deine Freunde machen. (Beispiel: Die Erzieherin sagt: „Zieht euch bitte die Stiefel an, weil es draußen regnet.“ Das betreffende Kind kaum ein Wort verstanden. Es schaut auf die Freunde und sieht, dass diese sich die Stiefel anziehen. Es schließt daraus: Die Erzieherin wird wohl gesagt haben, dass wir uns die Stiefel anziehen sollen. Vielleicht hat das Kind in dieser Situation ein neues Wort gelernt: „Stiefel“.) Wenn du etwas nicht verstanden hast, frage deine Freunde. Wenn du etwas nicht verstanden hast, lass es dir von deinen Freunden erklären oder übersetzen. Wenn du etwas nicht verstanden hast oder du nicht weißt, wie du etwas sagen kannst, hole dir Hilfe von deinen Freunden, sprecht miteinander, sagt es gemeinsam.


  

Der Umgang mit Zweitspracherwerbsstrategien: Eine Frage der Brille

Alle Zweitspracherwerbsstrategien können auch negativ interpretiert werden. Es ist die Frage danach, welche Brille man aufsetzt.

  • Code-Switching (Sprachwechsel): Das Kind kennt die Wörter im Deutschen noch nicht, und muss immer wieder auf die Wörter der Erstsprache zurückgreifen.
  • Sprachliche Transfers: Das Kind kennt die Regeln im Deutschen noch nicht und setzt oft die Regeln der Erstsprache ein.
  • Situationsrelevanz: Das Kind kann das Gesagte rein sprachlich noch nicht verstehen und muss sich immer an der aktuellen Situation orientieren, um es zu verstehen.
  • Tu so, als ob du das Gesagte verstanden hättest: Das Kind tut nur so, als ob es das Gesagte verstanden hätte.
  • Erwecke den Eindruck, dass du die Sprache sprechen kannst: Das Kind tut nur so, als ob es die Sprache (Zweitsprache) sprechen könne.
  • Vertraue auf die Hilfe deiner Freunde: Das Kind muss immer wieder auf die Hilfe seiner Freunde zurückgreifen.

Dies wäre die negative Sicht auf die Zweitspracherwerbsstrategien. Mit einer anderen Brille erscheinen die Zweitspracherwerbsstrategien aber – wie weiter oben beschrieben – als äußerst hilfreiche Strategien, die Kinder einsetzen, um sich selber beim Zweitspracherwerb zu unterstützen und die Zweitsprache noch besser und schneller zu erwerben.

Insgesamt sind die genannten Strategien also solche, die von den pädagogischen Fachkräften im Rahmen der alltagsintegrierten Sprachbildung umfassend unterstützt werden sollten. Den betreffenden Kindern sollte stets vermittelt werden, dass sie Selbstbildungskompetenzen haben, auf einem guten Weg sind und die eingesetzten Zweitspracherwerbsstrategien genau richtig sind.  

  

(c) Udo Elfert 2021